Jürgen Albrecht

Jürgen Albrecht studierte zunächst Malerei, bevor er sich 1985, kurz nach Beendigung seiner Akademiezeit, dem Material Pappe als Werkstoff für seine ersten dreidimensionalen Arbeiten zuwandte. Pappe erschien ihm leichter, einfacher, neutraler und weniger festgelegt als andere „klassische“ Bildhauermaterialien. Seit dieser Zeit schuf er ein ungewöhnliches und konsequentes Werk. Betritt der Besucher einen Ausstellungsraum mit Werken des Künstlers, so erblickt er eine Reihe schlichter, länglicher, geometrischer Körper aus grauer oder weißer Pappe, die an den Wänden befestigt sind. Nähert man sich diesen unspektakulären Objekten, so bemerkt man, dass deren Außenhaut immer wieder aufgeschnitten und an diesen Stellen durch Transparentpapier ersetzt wurde. Zufällig oder aufgrund einer, durch diese Öffnungen möglicherweise noch verstärkten, Intuition entdeckt man dann die Öffnungen an den Längsseiten der Körper, die den Blick in deren Inneres freigeben. Stets kann nur ein einziger Betrachter in ein Objekt hineinschauen, so dass er in diesem Moment alleine mit sich und seiner Wahrnehmung ist, zurückgeworfen auf sich selbst und das, was er sieht.

Im Inneren der Objekte eröffnen sich ihm labyrinthartige Raumfluchten; eine ganze Architektur aus Räumen, Wänden, Durchgängen, Pfeilern, Absätzen und Nischen, im Baukastenprinzip aus Pappe gefertigt und in den rechteckigen Hohlkörper eingefügt. Die in unterschiedlich dichter Reihung hintereinander gesetzten Räume erzielen eine stark perspektivische Wirkung. Als wesentliches Gestaltungselement fungiert das durch die mit Pappe oder Folie verkleideten Öffnungen einfallende Licht. Nahe an diesen Öffnungen wirken die Räume hell und weißlich,  weiter von ihnen entfernt scheinen sie immer dunkler. Das Licht wird vom Künstler so bewusst, wie Udo Kittelmann schreibt, „als Ereignis inszeniert“. 1


Nichts in diesen Räumen lenkt ab von der Wirkung, der Entfaltung, dem Wechsel des Lichtes, es steuert den Blick des Betrachters und zieht ihn immer weiter hinein in die Tiefe des Objektes. Albrechts Arbeiten verfügen, nicht über eine eigene Lichtquelle. Vielmehr sind sie abhängig von den spezifischen Lichtverhältnissen in dem jeweiligen Ausstellungsraum, was – im Falle einer natürlichen Beleuchtung – zugleich bedeutet, dass sie dem Wechsel der natürlichen Lichtverhältnisse unterworfen sind. Bei aller Kargheit und äußerlichen Rationalität der Erscheinung der Werke Albrechts spielt hier doch ein gewisses zufälliges, oder zumindest nicht steuerbares Moment mit hinein, welches der Künstler aufnimmt und zum immanenten Bestandteil seiner Werke macht. Kittelmann verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Einmaligkeit der Skulpturen Albrechts, deren Wahrnehmungsqualitäten an jedem Ort nur einmalig zu erfahren sind. 2


Das Licht führt und lenkt den Blick kalkuliert und gesteuert durch die Abfolge der Räume; es strukturiert diese und schafft für den Betrachter somit auch ein zeitliches Aufeinanderfolgen der Licht - und Schattenpartien. Obwohl die Arbeiten von außen betrachtet und eingebettet in die reale Umgebung klein und handhabbar erscheinen, schaffen sie sich doch in dem Moment, in dem man in sie hineinblickt, ihren eigenen Realitätsraum; Auf einmal erscheinen die Räume lebensgroß, im Geiste beginnt man, sie zu durchschreiten und man findet nichts darin, was diese Illusion als solche erkennbar machen und den Maßstab wieder relativieren würde. Albrechts Objekte vermitteln so – trotz oder gerade wegen ihrer Leere – den Eindruck von sich abgeschlossenen, mit der Realität nur noch durch die Erinnerung des Betrachters verbundenen, „kleinen Welten“ für sich. Hiermit liegt auch ein wesentlicher Unterschied zwischen diesen Arbeiten und dem Werk anderer Künstler, die gleichfalls die Gestaltungselemente Raum, Architektur und Licht einsetzen – wie etwa Gordon Matter – Clark, Dan Graham oder Robert Irwin. Sie alle bleiben in Maßstab, Beschaffenheit und Ausführung ihrer Werke erkennbar auf die sie umgebende Realität bezogen.

So unterschiedlich ihr Schaffen in Einzelnen auch sein mag, ihre Werke stehen alle in direkter Verbindung mit ihrer Umgebung und sind nicht, wie Albrechts Innenräume, durch sie umschließende, undurchsichtige Außenwände von dieser abgesetzt. Der unterschiedliche Maßstab der Außenwelt und der Innenräume der Objekte Albrechts verhindert auch, daß der Betrachter in die Rolle des Voyeurs gerät,“ da eine -Schlüsselloch- Perspektive zwar räumliche Distanz, im Prinzip aber eine Kontinuität der Wirklichkeitsbereiche erfordert. 3


Die vom Künstler geschaffene „Architektur“ bleibt zweck – und funktionsfrei, sie ist nicht rationalen Gesetzen unterworfen und kontrastiert dadurch mit allen funktionalen Architekturmodellen. Sich Albrechts Innenräume als reale und begehbare Architektur vorzustellen, erscheint daher völlig unsinnig. Anders aber auch als die Guckkästen des 17. Und 18. Jahrhunderts, die dem Betrachter eine bunte, ihm unbekannte Welt – die Ansichten fremder Städte, ferner Landschaften oder bestimmter Sehenswürdigkeiten – vor Augen führten, sind die Innenräume Albrechts leer, gibt es in ihnen vergleichsweise wenig zu sehen.

So dienen sei denn auch nicht der Unterhaltung oder Belehrung des Betrachters, sondern machen diesem die eigene Wahrnehmung bewusst, sie sind Reflexionen über das „Sehen“ genauer gesagt darüber, was wir sehen und was wir mit diesem Sehen verbinden.


Albrechts Innenräume nämlich evozieren für jeden Betrachter eigene Bilder, sie werden zum architektonischen Rahmen, zum Handlungsraum für die Imagination. Somit erfordern sie vom Betrachter Seh- und Verhaltensweisen, eine innere Einstellung, die heute alles andere als selbstverständlich sind. Der Rezipient muss sich aktiv um die – im wahrsten Sinne des Wortes – „Öffnung“ beziehungsweise den Zugang zum Kunstwerk bemühen, und hat er diesen gefunden, so muss er lange und genau hinschauen, er muss sich und seine Gedanken öffnen für das, was er sieht. Er kann diesen Moment mit niemanden teilen, sein Blickwinkel ist eingegrenzt, einzig fokussiert auf dieses eine Kunstwerk, von keinerlei Ablenkung oder Geschehnissen am Rande beeinträchtig. Und er muss dieses Kunstwerk selbst ausfüllen, mit seinen Gedanken und Vorstellungen, mit seiner eigenen Fantasie.

Kittelmann urteilt deshalb:

„Jürgen Albrechts künstlerisches Werk zeitigt alle Qualitäten eines überzeitlichen Anspruchs, der im Kontext der proklamierten Kunstmoden und -Trends des letztens Jahrzehnts selten geworden scheint, und welche oftmals nur vorgaben, ihre auf die Gegenwart konzentrierten Gedanken und Empfindungen wahrnehmbar und erfahrbar machen zu wollen“.4


Eine Besonderheit der Werke Albrechts ist schließlich, dass sie sich aufgrund ihres „Erlebnischarakters“ stärker als andere Kunstwerke der Abbildung mittels der Fotografie entziehen. Seine Skulpturen können letztendlich weder abgebildet noch beschrieben werden, weder dokumentiert noch vermittelt, sondern einzig erlebt und erfahren werden.

Maria Linsmann. 1994

 

1/2/4. Udo Kittelmann, Jürgen Albrecht, Skulptur. Raum. Licht. 1993

3. Hannelore Kersting, Raum für Imaginationen, Städtisches Museum Abteiberg Mönchengladbach 1990

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